Das Erbe

von Monika Zenker

 

Als kleines Kind konnte Anna es kaum erwarten, bis die Ferien begannen und sie zu Oma aufs Land durfte. Ein kleines Häuschen das umringt von vielen Obstbäumen den schönsten Spielplatz ihrer Kindheit bot und aus den Früchten machte Oma die leckersten Kuchen und Säfte. Wenn sie an ihre Großmutter dachte, hatte sie Kuchenduft in der Nase.

Fritz, der Nachbarsjunge, stand immer mit Oma am Bahnsteig, um sie abzuholen. Er freute sich jedes Jahr auf den Sommer und diesen Moment, wenn der Zug, mit seiner kleinen Freundin darin, in den Bahnhof einrollte. Sie hatten Spaß, machten Dummheiten und hatten sich viel zu erzählen aus der Zeit, in der sie sich nicht sahen.

Die Kindheit verging und die Abstände wurden immer länger, dass sie zu Oma aufs Land raus fuhr. In den Sommerferien feierte sie lieber Partys und ging zum Baden an den See mit ihren Freundinnen. Die grüne Wiese am Haus ihrer Großmutter hatte ihren Reiz verloren. Sie hatte sich verändert und der Geruch vom Kuchen war verflogen. Fritz fragte jeden Sommer erneut bei der Großmutter nach.

„Kommt sie diesen Sommer?“

„Du weißt doch, dass sie für die Schule lernen muss“, versuchte die Großmutter ihn zu trösten.

Sie erfand immer neue Ausreden, aber Fritz wusste längst, dass es für sie nicht mehr wichtig war, den Freund aus Kindertagen zu sehen.

Sie wurden erwachsen und sahen sich sehr selten, denn irgendwann vergaß sie vor lauter Arbeit, dass Oma auf sie wartete. Fritz hatte es aufgegeben zu hoffen. Er fragte auch nur noch selten nach, wenn er bei der alten Dame vorbeischaute, da er wusste, dass es sie traurig stimmte.

Am Telefon schob Anna den Besuch immer wieder hinaus und irgendwann war es zu spät.

Als der Anruf von Fritz kam, dass er Oma in ihrem Haus gefunden hatte und sie verstorben sei, da spürte sie, wie leid es ihr tat, dass sie ihren Urlaub nicht dazu genutzt hatte, um zu ihrer Großmutter aufs Land zu fahren. Ihre Eltern kümmerten sich um die Beerdigung, und am Tag der Beisetzung traf sie Fritz zum ersten Mal nach langer Zeit wieder.

Er erzählte von den letzten Jahren und auch wenn sie seine Nähe genoss, wusste Anna, dass es verschiedene Leben waren, in denen sie sich wohlfühlten. Es gab ihr auch einen Stich, dass er mehr von ihrer Großmutter wusste, als sie selbst. Fritz hatte sich um sie gekümmert und sie backte ihm bis zuletzt den leckeren Kuchen, dessen Geruch ihr gerade jetzt wieder in die Nase stieg. Sie war froh, dass es nur ein kurzer Besuch war, denn alles, was sie spürte, war ihr schlechtes Gewissen.

Ein paar Wochen später hielt sie den Brief des Anwalts in der Hand, der ihr mitteilte, dass sie die Alleinerbin von Omas Vermögen war. Traurigkeit überkam sie. Dabei überlegte sie sogar kurz das Erbe abzulehnen, weil sie sich ein paar Tage freinehmen müsste, um die Angelegenheiten zu klären. Es wäre zwar schön, noch einmal in alten Erinnerungen zu schwelgen, aber aufs Land ziehen und ihr Leben neu ordnen, dass wollte sie nicht. Was sollte sie mit der alten Bretterbude. Das Haus stand ziemlich abseits und Arbeit gab es in diesem Bezirk auch nicht für sie.

Aber Anna entschloss sich, doch noch einmal dorthin zu fahren, vielleicht gab es etwas, das sie als Erinnerung mit nach Hause nehmen konnte. Das Grundstück könnte sie verkaufen und sich vom Erlös eine kleine Wohnung in der Stadt leisten. Der Gedanke an die eigenen vier Wände war sehr verlockend.

Als der Zug in den Bahnhof fuhr, stand dort Fritz. Sie hatte ihn verständigt, dass sie ein paar Tage aufs Land kommen würde, um alles zu regeln. So traurig der Anlass war, er freute sich wie vor Jahren, sie erneut zu treffen, und strahlte übers ganze Gesicht, als sie aus dem Zug stieg.

„Schön dich wiederzusehen“, sagte er, als er auf sie zukam. Er nahm sie in die Arme, drückte sie, bevor er nach dem Koffer griff, den Anna auf dem Bahnhof abgestellt hatte.

Sie hatten sich viel zu erzählen und sie merkte schnell, dass Fritz davon ausging, dass sie in Zukunft Nachbarn sein würden. Als sie bei einem Glas Wein saßen, gab sie ihm zu verstehen:„Ich werde nicht bleiben, mein Zuhause ist die Stadt.“

„Oh“, war alles, was Fritz dazu einfiel.

„Ich werde das Grundstück verkaufen und mir etwas Passenderes in der Stadt suchen.“

„Ich könnte es übernehmen, zwar wäre mir lieber gewesen, du wärst geblieben, aber die Obstbäume und das Land sind fruchtbar“, warf Fritz mit einem traurigen Blick ein.

Jetzt war es Anna, die überrascht war, denn an diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. Sie wurden sich schnell einig und auch wenn Fritz es gern hinausgezögert hätte, kam der Abschied sehr bald und er wusste, dass sein Leben ohne die Freundin aus Kindertagen weitergehen musste.

Vielleicht würde sie ab und an mal mit Fritz telefonieren, aber im Grunde war Anna klar, dass es ein Abschied für lange war. Während der Heimreise im Zug dachte sie noch einmal darüber nach, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ob Oma verstehen würde, dass sie das Landleben und vielleicht ein Leben mit Fritz nicht dem der Stadt vorzog?

Erst als sie sich in ihrer kleinen Eigentumswohnung eingerichtet hatte und das Gefühl spürbar wurde, dass genau das ihr Leben zu sein schien, war sie sich sicher die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Sie war Oma sehr dankbar für dieses Leben, das sie sich ohne das Erbe nicht hätte leisten können.

 

Die Jahre vergingen und sie waren ausgefüllt mit Arbeit. Auch hatte sie viele Freunde, aber den richtigen Mann fürs Leben traf sie nicht.

Irgendwann im Alter fasste sie den Entschluss an den schönsten Ort ihrer Kindheit zu reisen, denn die Sehnsucht ließ sie nicht ruhen. Sie wollte noch einmal dorthin zurück, wo sie als Kind die glücklichsten Tage verbracht hatte. Fritz, ihren alten Freund besuchen, den sie, auch wenn sie es nicht zugeben wollte, vermisste und schauen, wie es ihm ergangen war.

Als der Zug in den Bahnhof einrollte, stand dort kein Fritz. Sie hatte ihn nicht über die Anreise informiert, da sie seit damals keinen Kontakt mehr hatten. Mit Wehmut stand Anna auf dem Bahnsteig und dachte darüber nach, ob der Freund von einst sich über ihr Kommen freuen würde. Wie hätte ihr Leben ausgesehen, wenn sie geblieben wäre?

Den Weg zu Omas altem Haus kannte sie noch ganz genau. Auch hier waren die Jahre nicht einfach verstrichen, es hatte sich einiges geändert, aber es war immer noch die Ausstrahlung des kleinen idyllischen Ortes vorhanden, die sie wieder an den Duft von Omas Kuchen erinnerte.

Auch die vielen Obstbäume gab es noch, nur das alte Haus von ihrer Großmutter, das stand dort nicht mehr.

Dafür ein Gebäude, das um einiges größer war und mit dem Garten schon einer Villa ähnelte. Sie sah einen älteren Herrn auf der Veranda sitzen und erkannte ihn sofort: Fritz.

Als sie den kleinen Gartenweg näher zum Haus ging, sah sie, wie er die Hand vor die Stirn hielt, um gegen die Sonne schauen zu können, wer sich seinem Haus näherte. Die Stirn in Falten gelegt, musste er wohl kurz überlegen, aber dann formten sich seine Lippen zu einem Lächeln. Ja, er erkannte sie und seine Freude konnte er nicht verbergen. Er erhob sich von seinem Stuhl und kam auf sie zu.

„Was für eine Freude!“, sagte Fritz, als er mit ausgebreiteten Armen vor ihr stand. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie sich noch einmal treffen würden. Anna fiel ein Stein vom Herzen und sie ging auf den Freund zu. Eine herzliche Umarmung ließ den letzten Zweifel, sie wäre nicht willkommen, weichen.

„Sogar die alte Vertrautheit war zu spüren. Er lud sie ein mit ihm auf der Veranda Platz zu nehmen, ein Gläschen Wein zu trinken und sich an die alten Zeiten zu erinnern.

Sein Lehnstuhl knarrte etwas, wenn er das Erzählte mit Gesten unterstrich. Er sprach davon, was ihm fehlte, was ihnen wohl beiden auf dem Weg, den sie gegangen waren, nicht begegnet war. Die Liebe für ein Leben, denn auch er war allein geblieben.

„Wollten wir zu viel vom Leben und haben das Glück übersehen?“, fragte sie ihn. Wobei sie mit der Hand über ihrem Mund strich, um das Gesagte festzuhalten, nicht darüber nachdenken zu müssen, was ihr vielleicht entgangen war.

„Du wolltest mehr, mir reichte diese kleine Welt. Ich habe immer gehofft, dass du zurückkommst und irgendwann deinen Platz an meiner Seite findest. Aber dieser Traum erfüllte sich nicht.“

Sie schaute ihn an und seine Traurigkeit spiegelte sich in ihren Augen.

„Warum hast du nie etwas gesagt?“

„Wärst du denn dann geblieben?“

„Wahrscheinlich nicht“, gab sie ihm als Antwort.

Diese Ehrlichkeit hatte das Gespräch abrupt enden lassen. Anna nahm einen Schluck des Weines aus dem Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand und wendete den Blick über die Obstbäume in den wunderschön angelegten Garten.

„Du hast ja viel aus deinem Leben gemacht, wenn ich mich hier so umschaue“, sagte sie wie beiläufig, da sie die Stille nicht ertrug.

„Das habe ich alles deiner Großmutter zu verdanken.“

Jetzt schaute sie ihn sehr erstaunt an und die Frage lag auf der Hand.

„Was hat denn meine Oma damit zu tun?“

„Eigentlich wollte ich das alte Haus renovieren und in seiner kleinen bescheidenen Art wieder instand setzen. Aber als ich anfing die Zimmer nach und nach auszuräumen, entdeckte ich eine kleine Kammer hinter einer Holzwand. Sie verbarg ein wertvolles Geheimnis. Dahinter waren Bilder deponiert, die seit Jahren von renommierten Häusern als verschollen galten. Es war ein einzigartiger Fund und ich glaube noch nicht einmal deine Großmutter wusste davon. Ich habe noch versucht, dich zu erreichen, aber du warst schon umgezogen und deine neue Adresse kannte ich nicht. Daher habe ich sie dem Museum übergeben und dafür eine Abfindung erhalten. So war es mir möglich, mit dem was ich selbst noch hatte, dieses Haus zu bauen.“

Sie sah ihn an und sagte: „Auch wenn du mich erreicht hättest, hätte ich deiner Entscheidung zugestimmt, denn es war dein Besitz. Aber ich finde schön, dass du an mich dachtest.“

Es gab ihr einen Stich, dass sie den Menschen allein gelassen hatte, der ein Partner für das ganze Leben hätte sein können, wenn sie viel früher auf ihr Herz gehört hätte.

Sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen, denn dann würde sie wohl mit dem Blick auf ihr Leben, heute mehr das Glück in den Dingen suchen die direkt vor ihr waren und nicht erst in die Ferne schweifen. Anna fühlte sich sehr unwohl und sie würde den schönsten Ort der Kindertage wieder einmal mit einem traurigen Gefühl verlassen.

Bis zu ihrer Abfahrt am Abend, versuchte Fritz, sie an die schönen Tage von früher zu erinnern. Er machte mit Anna einen Spaziergang durch die Felder, wonach sie noch im Ort einkehrten, um etwas zu essen, da sie nicht mit leerem Magen fahren sollte.

Anna sah Fritz mit großen Augen an, als er ihr am Bahnhof zum Abschied eine kleine Schachtel gab und während der Zug aus dem Bahnhof rollte, stand sie noch lange im Abteil am Fenster und sah, wie er dem Zug hinterherwinkte.

Das Päckchen noch immer in der Hand, setzte sie sich und öffnete es. Dabei löste sie die Schleife aus einem roten Band und öffnete den Deckel. Als ihr Blick auf die Schmetterlingsbrosche fiel, die sie an ihrer Oma immer bewundert hatte, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein kleiner Zettel lag dabei und sie klappte ihn auf und las:

"Ich habe sie für dich aufgehoben, da ich wusste wie viel sie dir bedeutet hat. Ich habe immer gehofft, dass wir uns wiedersehen."

Sie hinterließ wieder Hoffnung, denn Fritz hatte sie gebeten zu bleiben. Als letzten Satz schrieb er: „Ich werde auf dich warten, wie ich es immer getan habe.“

Nach einem erneuten Blick auf die Brosche und den Zeilen auf dem Papier, schaute sie noch einmal zurück, in die Richtung in der Fritz gestanden hatte und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von ihrer Wange.

Dann nahm sie den silbernen Schmetterling mit den vielen bunten Steinchen auf seinen Flügeln in die Hand und umschloss ihn ganz fest.


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